Zumindest diejenigen von meinen Freunden, die nicht aus Europa kommen, sind sich einig: Ich wirke überhaupt nicht deutsch. Das soll heißen: Ich wirke überhaupt nicht wie eine Deutsche, das soll heißen: wie jemand, der aus Deutschland kommt. Was soll das heißen? Für meine Freunde liegt das auf der Hand: Ich rede zu viel, erzähle zu viel, zu laut, ich lache zu oft, ich nehme zu schnell Kontakt auf, ich lade zu oft Freunde zum Essen ein, ich koche zu oft, zu viel, bringe zu viel mit, wenn ich bei anderen eingeladen werde, ich biete zu oft meine Hilfe an – um Deutsche zu sein. Sie haben nicht meinen Pass kontrolliert: Sie glauben mir, dass ich aus Deutschland komme. Aber im Herzen sei ich doch viel eher Indonesierin, oder Tunesierin, oder Ecuadorianerin. Oder Bulgarin? Der Name passt schließlich. Ein Franzose schaltet sich ein: Auch mein Akzent sei nicht deutsch. Irgendwas schon, aber nicht deutsch. Vielleicht soll das also auch für mich gelten: Irgendwas schon, aber nicht deutsch.
Ich beginne mich zu fragen, wie denn Deutsche wirken, bzw. wie man wirken muss, um deutsch zu wirken. Für meine Freunde liegt auch das auf der Hand: Deutsche sind genau, exakt, das heißt verlässlich, aber vor allem reserviert. Sie reden nicht viel, wenn überhaupt, dann aber gesetzt und wohl überlegt. Sie freunden sich nicht gleich mit jedem an und sind eher kühl als aufgeregt. Sie lachen nur im privaten Kreis und würden niemals anfangen, spontan zu singen. Ich solle mir die Deutschen einfach vorstellen wie die Schweizer. Ich denke: Achso, und habe gar keine Vorstellung.
Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Sind wir Deutschen jetzt nicht mal mehr das lustige Völkchen in Dirndl und Lederhose, die mit dem Bierkrug in der Hand auf Holztischen tanzen? Und wirken die Schweizer auf eine Indonesierin reserviert?
Wir sind in der Lausanner Wohnung einer Amerikanerin, die in die Schweiz gekommen ist, um die Bedeutung des Alphorns in zeitgenössischer Musik zu erforschen. Sie hat für uns Sushi gemacht. Es sind nicht genug Teller da, aber jeder hat Stäbchen. Wir hören Buena Vista Social Club und reden vor allem über die letzten Ereignisse in Ägypten. Als wir den argentinischen Wein öffnen, bin ich erleichtert. Denn ich denke: Wenigstens sind wir alle – irgendwas schon.
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Lenchen (Montag, 14 März 2011 21:13)
Natuerlich sind wir immer irgendwas. Und vielleicht haben wir alle etwas typisch deutsches an uns, manche etwas ausgepraegter, andere etwas weniger. Aber was ist ueberhaupt typisch? Ich moechte behaupten, dass ich mich doch sehr von einem Lederhose tragendem Bayer unterscheide=) Es kommt eben auf die Betrachtungsweise an...
kann (Donnerstag, 21 Juli 2011 16:30)
was bedeutet es denn für dich deutsch zu sein, lydia?