Protokolle gehören doch zu wünschenswerten, weil praktischen Einrichtungen in einem Seminar. Die section d’allemand an der Université de Lausanne handhabt es daher ganz richtig: Damit nicht in jeder Sitzung alle mitschreiben müssen, damit also in jeder Sitzung alle mehr denken können, gibt es in jeder Sitzung einen, der Protokoll führt. Das ist wohl eine begrüßenswerte Regelung, denn so können sich auch die Studenten, die mal eine Sitzung verpassen, noch nachträglich informieren.
Da ein gelungenes Protokoll auch Aufschluss über inhaltliche Fragen gibt, kann dieses also auch für solche, die den vorzubereitenden Text nicht gelesen haben, noch zur fruchtbaren Quelle der Information werden. Stößt man dann auf eine solche Perle der Protokollführung, wie im Folgenden zitiert werden soll, bleiben auch wirklich keine Fragen zum Text offen: „Aus Verärgerung und Protest über Arnolds Fortschritts-Skepsis arrangiert der Vater die Hochzeit zusammen mit den beiden Bräutigamen ohne das Wissen seiner Frau Marie als politische Feierlichkeit. Er möchte seinem Sohn damit eine Lehre erteilen, denn der ‚Käfer auf der Tischplatte‘ (S. 525, Z. 23), dessen Bedeutung er nicht verstanden hat, mopst ihn zutiefst.“ (Aus einem Protokoll zu einer Sitzung zum Gottfried-Keller-Roman Martin Salander.) Merke: Es ist eine Kunst, sich präzise auszudrücken, ohne all zu sehr in wissenschaftliches Kauderwelsch abzurutschen! Darüber hinaus lässt dieses Protokoll auch deutlich hervortreten, dass richtiges Zitieren zu den Königsdisziplinen der Literaturwissenschaft gehört. Schlägt man also das im Protokoll angegeben Zitat im Originaltext nach, so stößt man auf folgenden Satz: „In diesem Lichte gesehen, sei der Fortschritt nur ein blindes Hasten nach dem Ende hin und gleiche einem Laufkäfer, der über eine runde Tischplatte wegrenne und, am Rande angelangt, auf den Boden falle, oder höchstens auf dem Rande entlang im Kreise herumlaufe, wenn er nicht vorziehe, umzukehren und zurückzurennen, wo er dann auf der entgegengesetzten Seite wieder an den Rand komme.“ Merke: Textbelege können eine wissenschaftliche Arbeit nur bereichern!
Besonders auch in Seminaren zur Lyrik wird der beflissene Student stets dankbar für eine gebündelte Zusammenfassung der im Plenum erarbeiteten Deutungsthesen sein. So bietet ein Protokoll zu einem Seminar zur Lyrik der Nachkriegszeit folgendes Feuerwerk an Interpretationsansätzen zu Paul Celans weltberühmter Todesfuge: „‚Schwarze Milch‘: Die Bildteile knallen aufeinander! Ist nicht die Milch weiss? Wie kann es also eine ‚schwarze Milch‘ geben? Und werden Neugeborene nicht mit Milch ernährt, wo hingegen das Schwarze eher die Farbe des Todes ist? Es ist ein paradoxes Bild, ein Bild der Perversion.“ So kann sich durch eine Sammlung von Protokollen ein wahrer Schatz an Denkanstößen ergeben, der einem auch Jahre nach dem Studium bei einer Re-Lektüre der Texte weiterhelfen können wird. Eindrückliches Beispiel dafür bietet auch das folgende Protokoll zur Besprechung des Ingeborg-Bachmann-Gedichts Herbstmanöver: „Der Titel, welcher als militärische Metapher verstanden werden kann, zeigt auch eine Spannung, denn Manöver gibt es eher im Sommer, wie die Ernte.“ Auch zum Thema Schuldbewusstsein in Bachmanns Gedicht bietet eben dieses Protokoll aufschlussreiche Ansätze: „Schon im ersten Vers ist es thematisiert: ‚Ich sage nicht: das war gestern.‘ Das lyrische Ich behauptet, dass es vorbei sei, wie von gestern.“ Merke: Zur Kunst des Protokollierens gehört die treffgenaue Raffung!
Besonders nutzbringend sind Protokolle auch dann, wenn sie die wichtigsten Infor-mationen zu den besprochenen Autoren bieten. So findet sich folgende Kurzbiographie Bertolt Brechts, die hier im Ganzen zitiert werden soll, auf einem sehr gelungenen Protokoll: „Emigriert 1933 in die USA; kommt nach Europa zurück; wird zu einem Wortführer in der DDR, in Ostberlin; Klassenkämpfer.“ Merke (nach Foucault): Der Autor ist tot!
Zum Glück aber nicht die ernsthafte Auseinandersetzung mit Literatur. Merke: Die Wissenschaft stirbt nie!
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hannes (Donnerstag, 04 November 2010 21:29)
großartig! bei uns sollten auch protokolle geschrieben werden... sollte mal jemand anregen... da entgeht einem ja sonst haufenweise spaß!